5. Die Entstehung der Kognition

Entwicklungstheorien beschreiben nicht nur die Veränderungen, die das Kind zeigt, sie müssen erklären wie das Kognitionsvermögen entsteht, bzw. wie sich die Gehirnstrukturen ausbilden oder warum das Kognitionsvermögen mancher Kinder hinter der ihrer Altersgenossen zurückbleibt. Die verschiedenen Theoriebildungen berufen sich alle auf immer genauere Beschreibungen und erwecken so zum Teil den Eindruck als ob sie sich direkt aus diesen Beschreibungen ableiten lassen. Das ist aber nicht der Fall, was sich leicht durch die verschiedenen Theoriebildungen zeigen lässt:

 

Nach Piaget entsteht die Kognition dadurch, dass sich das Kind aktiv mit der Umwelt auseinandersetzt, zuerst im Funktionsspiel, mit welchem es die sensomotorische Intelligenz ausbildet, und dann in immer komplexeren Spielen – eigentlich gleich einem Forscher – der durch Ausprobieren und allmählich immer geplanterem Vorgehen induktiv Zusammenhänge ableitet. Der Unterschied ist allerdings gravierend: Während der Forscher bereits Denkstrukturen und neuronale Netze im Gehirn ausgebildet hat, soll das Kind anhand der Erforschung der Umwelt diese erst ausbilden. Die Erklärung ist nicht überzeugend, da wir wissen, dass zum Erforschen neuer Zusammenhänge sich nur Menschen mit bereits gut ausgebildeten Denkstrukturen eignen, in der Regel Menschen mit einem Universitätsabschluss, bzw. einem Doktorgrad.

 

Dagegen beschreibt Wygotsky und Steiner das Lernen als gemeinsames Denken, als Ko-Prozess in der Zone der nächst höheren Entwicklung. Wie wir bei einer neuen Tätigkeit beispielsweise beim Stricken, die Hand des anderen führen, so führen wir beim Erlernen des Denkens den anderen. Dabei hat dieses „Führen“ immer etwas Dialoghaftes. Es ist kein Formen einer seelenlosen Materie. Das Kind ist eben noch nicht selbständig aber doch schon ein eigenes Wesen, d.h. mit einem eigenen Willen begabt. Am Erwerb der Sprache wird dies besonders deutlich, insbesondere an Gesprächen ,die der Erwachsene mit dem Kind führt, wo er sinngemäß die Antworten des Kindes mitspricht und so auf der Gefühlsebene eine Einheit mit dem Kind bildet, ohne dass die Grenze zwischen Erwachsenem und Kind ganz verschwimmen, z.B.:

 

„Vater: Na, wollen wir denn gar nicht lachen? (kitzelt Kind; Kind verzieht das Gesicht)

Vater: (verzieht ebenfalls das Gesicht) Oh wir sind ungnädig heute. (Kind guckt zur Türe)

Vater: (guckt ebenfalls zur Türe) Ja Mutti kommt gleich.

Kind: Wawawa.

Vater: Meinst Du es wäre schon Essenszeit?

Kind: Wawa.

Vater: Ja, du hast recht wir warten auf Mama.“ (Butzmann & Butzmann, 2008, 68)

 

Als genetisch veranlagt bezeichnet die Entwicklungstheorie von Steiner also nur die schrittweise Loslösung des Kindes von seiner primären Bezugsperson. Die verschiedenen Phasen sind dadurch charakterisiert. Die Unterschiede zeigen sich in der unterschiedlichen Beziehungsgestaltung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen und in den verschiedenen Bewusstseinszuständen des Kindes in Bezug auf das bewusste Planen und der vom Erwachsenen mehr oder weniger unabhängigen Entscheidungsmöglichkeit des Kindes. 

 

5.1. Die ersten sieben Jahre

Das Kind plant in den ersten sieben Jahren seine Handlungen nicht. Seine Tätigkeiten sind sinnvoll, indem es die Umwelt durch den spielerischen Umgang erforscht oder im phantasiegeleitetem Spiel sein Selbst erahnt, da es nicht nur reaktiv die Umwelt ergreift, sondern seine Gestaltungsmöglichkeit erlebt. Dies kann das Kind nur, wenn es sich völlig in einer verlässlichen Bezugsperson aufgehoben fühlt, an welcher es sich bezüglich des Ergreifens der Umwelt orientieren kann. Bezugs-Personen, die keinen Orientierungsrahmen bieten, weil sie diesen selbst innerlich nicht besitzen und welche selbst den Alltag nicht bewältigen, behindern das Kind in seiner Entwicklung. Bezugspersonen, welche die Gestaltungsmöglichkeiten des Kindes unnötig einschränken, sei es um das Kind in eine rationale Ordnung einzuzwängen oder um schon frühzeitig eine rational messbare Leistung einzufordern, verhindern die Ausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins, welches durch das Erlebnis der Wirksamkeit im phantasiegeleiteten Spiel entsteht.

 

Kinder, die auf Grund einer zerebralen Dysfunktion diese innige Beziehung zu ihrer Bezugsperson nicht aufbauen können, insbesondere Kinder mit frühkindlichem Autismus, fehlt das sinnhafte Erleben der Umwelt in seinen Handlungen. Dieses Erlebnis ist nur eingesponnen in die soziale Beziehung eines kompetenten Erwachsenen möglich, welches die erste Form des Lernens darstellt. Sie wurde von Steiner als „Nachahmung“ bezeichnet, von Bandura als „Lernen am Modell“ und sollte nicht mit einer reinen Imitation, im Sinne eines Papageien verwechselt werden. 

 

5.2 Die zweiten 7 Jahren : kein Kleinkind mehr und noch kein Jugendlicher

„Untersuchungen in der Neuropsychologie belegen, dass die Funktionen des in Entwicklung befindlichen kindlichen Gehirns nicht denen des adulten Gehirns auf einer unreifen Entwicklungsstufe entsprechen, sondern qualitativ und topographisch unterschiedlich organisiert sind“ (Gwiggner, 2004, 21).

 

5.2.1. Die sinnhafte Welt des Handelns

Mit dem Erwerb der Sprache wird es dem Kind möglich zuerst Dinge, dann Tätigkeiten (‚Papa kommt‘, Mama schläft‘ usw.) später Gefühle zu benennen, Erklärungen zu verstehen und selbst Erklärungen über sein Tun zu geben. Bevor es dies kann, muss sein Handeln sinnhaft werden. „Vor dem Sprechen wird das Handeln subjektiv sinnvoll, d.h. soviel wie bewusst-zweckvoll“ (Bühler, 1930, zitiert nach Wygotski, 1964, 88). Die erste Repräsentation der Sinnzusammenhänge befindet sich also auf der Handlungsebene. Dem Kind sind die Zusammenhänge nicht voll wach bewusst, aber es kann sie bereits handhaben, sie sind gewissermaßen schlafend bewusst. Leontjew (aus der «kulturhistorischen Schule» der sowjetischen Psychologie) beschreibt diesen Vorgang mit dem Konzept der Aneignung als alternatives Konzept zu der genetischen Entwicklungstheorie von Piaget: „Der Aneignungsprozess erfüllt die wichtigste Notwendigkeit und verkörpert das wichtigste ontogenetische Entwicklungsprinzip des Menschen: Er reproduziert die historisch gebildeten Eigenschaften und Fähigkeiten der menschlichen Art in den Eigenschaften und Fähigkeiten des Individuums“ (Leontjew, A. N. 1973, 286). Aneignung steht im Gegensatz zur Anpassung: „Die geistige, die psychische Entwicklung einzelner Menschen ist demnach das Produkt eines besonderen Prozesses – der Aneignung – den es beim Tier nicht gibt, ebenso wie bei diesem auch der entgegengesetzte Vorgang – die Vergegenständlichung nicht existiert“ (Leontjew, 1973, 282). Unter Vergegenständlichung versteht Leontjew die Veränderung der Umwelt durch den Menschen, indem er die Umwelt sinnhaft umgestaltet. Das Kind findet keine Naturwelt vor, auch dann nicht, wenn er als Kind eines Landwirts aufwächst. Überall hat der Mensch die Natur so verändert, dass in ihr Bedeutungen symbolisiert sind, die das Kind im Handeln begreifen lernt: Der Zaun ist nicht nur ein Gegenstand aus Holz, er bedeutet die Grenze hinter der der Nachbar anbaut; das Säen und Jäten zeigt den Unterschied zwischen Nutzpflanzen und Unkraut an. Alles Tun erhält seinen Sinn durch die Bedeutungen, die die Menschen diesem Tun unterlegen. Auch die Machtverhältnisse sind in diesem Tun symbolisch versteckt [2] und werden über das Tun aufgenommen: „Beim Prozess der Aneignung dagegen werden die historisch gebildeten menschlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen vom Menschen reproduziert. Durch die Aneignung vollzieht sich beim Kind das, was beim Tier durch die Vererbung erzielt wird: Die Errungenschaften der Art werden dem Individuum überliefert“ (Leontjew, 1973, 451). Das Kind lernt alles, d.h. es eignet sich alles an, auch wenn uns das Lernen nicht auffällt, weil es ein „Nebenprodukt“ (Wygotsky) des gemeinsamen Handelns mit kompetenten Erwachsenen ist. Die sogenannten wilden Kindern entwickelten kein Schamgefühl, sie konnten nicht weinen, sie können den Blickkontakt eines anderen Menschen nicht erwidern usw. (vgl. Butzmann & Butzmann, 2008, 14, 309 ff). Dagegen kann beispielsweise ein Biber seinen Bau bauen, seine Junge aufziehen ohne sich einer entsprechenden Schulung zu unterziehen.

 

Entwicklungstheorien müssen aber auch beantworten, wie aus dem schlafenden Bewusstsein des sinnvoll handelnden Kindes ein wachbewusster Jugendlicher wird, der die Zusammenhänge der Welt mit seinem Intellekt erfassen kann.

 

[2] Vgl. hierzu auch das Konzept des Habitus von Bourdieu: „Das Wesentliche aber ist, dass diese unterschiedlichen Praktiken, Besitztümer, Meinungsäußerungen, sobald sie mit Hilfe der entsprechenden sozialen Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien wahrgenommen werden, zu symbolischen Unterschieden werden und eine regelrechte Sprache bilden.“ (Bourdieu 1998, 21 f.)

 

5.2.2 Das Erleben der Welt: Sinneswahrnehmung und Erlebniswelt

Bevor das Kind die Kognition ausbildet, vermittelt sich die Welt ihm durch seine Sinnesorgane. An die Sinneswahrnehmung schließen sich unmittelbar die Empfindungen an (vgl. Steiner, 1976, 25). Unsere innere Erlebniswelt ist von unseren Wahrnehmungen abhängig und vorstrukturiert. Lebewesen, die andere Sinneswahrnehmungen haben, haben andere Sinnesempfindungen und ein anders Innenleben. So besitzt z.B. die Fledermaus Ultraschall – Empfinden, Schlangen haben Infrarot - Empfinden. Dabei werden in jedem Sinnesorgan strukturelle Vorentscheide getroffen. Selbst bei einer anderen Nicht-Licht-Einwirkung auf das Auge, wie z.B. einem Schlag‚ reagiert das Auge mit einem Bild. Wir sehen nämlich ‚Sternchen’, bzw. Lichtpunkte. Auf der anderen Seite nehmen wir keinen Tisch wahr usw., sondern der kognitive Anteil ist sehr viel grösser als uns bewusst ist. Was wir als sogenannte Wahrnehmung bezeichnen ist immer schon eine Zusammensetzung von ‚reiner’ Wahrnehmung und Denken oder Vorstellungen. Das erste, was ein ganz kleines Kind macht ist also eine analytische Zergliederung der Welt in unterschiedliche Sinneswahrnehmungen (vgl. Steiner, 1975, 136). Die Wahrnehmung der Mutter ist Farbe, Geruch, Geräusche und das Kind muss diese unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen zusammensetzten zu einem Bild der Mutter. Menschen mit Autismus haben auf dieser elementaren Ebene des Denkens Probleme, so schreibt Tito R. Mukhopadhyay über sich (wobei er über sich als „er“ oder „der Junge“ schreibt): „Er hatte das Gefühl, dass sein Körper verstreut war, und es war schwierig, ihn einzusammeln. Der Junge sah sich selbst immer nur als eine Hand oder ein Bein und drehte sich, um seine Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen“ (2005, 35). Donna Williams schreibt: „ich habe meine Welt immer als fragmentiert erlebt. Meine Mutter war ein Geruch, mein Vater ein Ton und mein ältester Bruder war etwas, das sich bewegt hat. Nichts war ganz außer den Farben und dem Funkeln in der Luft. Die IrlenBrille hat alles geändert. Gesichter und Körperteile und Stimmen sind eine Einheit geworden und können verstanden werden“ (Schuster, 2007, 93).

 

Das Kind lebt sich in die Wirklichkeit empfindungsmäßig ein, indem es die Welt in die verschiedenen Sinneswahrnehmungen zergliedert [3] und sie wieder zusammensetzt: „In zwölf verschiedenen Gliedern bringt ihnen die Welt das entgegen, was sie erleben und in ihren Urteilen fügen sie die Welt zusammen, weil das Einzelne nicht bestehen will als Einzelnes“ (Steiner, 1975, 136). Jede komplexe motorische Leistung setzt die Verbindung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen voraus z.B. wenn man die Strasse überquert, dann benutzt man den Gleichgewichtssinn, den Bewegungssinn, den Sehsinn, den Tastsinn und das Gehör. So wird deutlich dass innerhalb der Bewegungsentwicklung: Greifen, Drehen auf Bauch oder Rücken, robben, krabbeln, aufstehen und laufen, sich selbst anziehen usw. die einzelnen Sinne geübt werden und auch das Zusammenfügen der einzelnen Sinneswahrnehmungen was eine kognitive Leistung ist (vgl. Ayres, 2002, Sensorische Integration).

 

Erkennen findet zuerst im Gefühl, das sich unmittelbar an die Empfindung anschließt, also nicht voll wach, statt: „Gefühl ist […] noch nicht ganz gewordene Erkenntnis, …“ (Steiner, 1975, 89). Steiner ist damit einig mit Damasio, der die Beziehung zwischen Gefühl und Denken, ähnlich beschreibt: „Das zentrale Thema in Decartes‘ Irrtum ist die Beziehung zwischen Gefühl und Denken. Ausgehend von meinen Untersuchungen an neurologischen Patienten, die sowohl unter Beeinträchtigungen der Entscheidungsfindung als auch unter Gefühlsstörungen litten, stellte ich eine Hypothese (die Hypothese der somatischen Marker) auf, der zufolge das Gefühl in das Denken eingebunden ist und die Denkprozesse eher fördert als stört (wie man allgemein annahm).“ (Damásio, 2010, III, IV)

 

Auch die Sprache ist unabhängig von der Intelligenzentwicklung als Kommunikation auf der emotionalen Ebene bereits vorhanden, bevor sie mit einem sachlichen Inhalt belegt wird. Lüdke beschreibt verschiedene Phasen des frühkindlichen Dialogs, welcher zuerst der intersubjektiven emotionale Regulation, später der individuellen kognitiven Kontrolle und der Entwicklung der Autonomie dient (2006).

 

Folglich bildet das Kind die zweite Repräsentation der Welt auf der Gefühlsebene.

 

[3 ]Die modernen Wissenschaft beschreibt 8 verschiedene Sinne: Tastsinn, Bewegungsinn, Gleichgewichtssinn, Geruchsinn, Geschmacksinn, Wärme- und Kältesinn, Sehsinn, Hörsinn. Steiner beschreibt 12 verschiedene Sinneswahrnehmungen, nämlich noch den Lebenssinn, der wahrnimmt ob wir müde sind, hungrig oder durstig, den Sprachsinn, den gedankensinn und den Ichsinn (vgl. Steiner, 1975, 129 ff) 

 

5.3. Die dritten sieben Jahre: logische Verstehen der Welt und ethisches Handeln

Dem Jugendlichen soll die Welt erklärt, d.h. verstandesmäßig zugänglich gemacht werden. Im Allgemeinen sind Pädagogen sich einig, dass spätestens ab dem Jugendalter das Abstraktionsvermögen soweit gediehen ist, dass Erklärungen verstanden werden. Jugendliche verhalten sich aber dennoch – trotz besserem Wissen – häufig unvernünftig: Sie probieren Drogen aus; sie verfolgen ihre Ausbildung nicht ernsthaft genug usw. Das Phänomen ist wohl bekannt. Die Neurologie erklärt dieses Phänomen mit den noch nicht ausgebildeten exekutiven Funktionen. Da die exekutiven Funktionen qualitativ über das reine Abstraktionsvermögen hinausgehen, stellt sich auch die Frage, wie der Erwerb dieser Fähigkeiten und die entsprechende Gehirnbildung erfolgen können. Der Pädagoge steht vor einem Dilemma, denn er möchte den Jugendlichen zur eigenen Verantwortungsübernahme erziehen, was in sich ein Paradoxon darstellt. Spätestens hier kommt man mit den eingangs vorgestellten implizierten Bildern innerhalb der verschiedenen Entwicklungstheorien nicht mehr aus:

 

Organismische Entwicklungstheorien implizieren das Bild einer wachsenden Pflanze als Entwicklung. Mechanische Entwicklungstheorien transportieren das Bild einer Maschine, deren einzelne Teile zusammengesetzt werden müssen. Kontextualistische Entwicklungstheorien sehen den Menschen als Abbild der Umgebung und gehen deshalb von einem historischen Kulturkonzept, das der Mensch sich aktiv aneignet, aus. Obgleich bei allen vorgestellten Entwicklungstheorien der Mensch als aktives Wesen gedacht wird – im Gegensatz zum behavioristischen Modell – ist die aktive Kraft nur auf die Aneignung der Fähigkeiten und Kompetenzen bezogen. Nur im Entwicklungsmodell nach Rudolf Steiner bezieht sich die Aktivität nicht nur auf die Aneignung, sondern darüber hinaus auch auf Möglichkeit die Umgebung aktiv neu zu gestalten, nachdem sich das Kind bis etwa 20 Jahre die leibliche Grundlage dafür geschaffen hat die Welt zu verstehen und sich von relevanten Bezugspersonen leiblich unabhängig gemacht hat. Folglich kann nur mit dem Modell von Rudolf Steiner die historische Veränderung der Welt erklärt werden. Gleichzeitig wird bei Steiner die leiblich-seelische Einheit und somit auch Abhängigkeit des Kindes und des Jugendlichen von relevanten erwachsenen Bezugspersonen in den ersten 20 Jahren am stärksten betont. Das Bild der Entwicklung ist bei Steiner ein mehrdimensionales: Die Vorstellung der Entwicklung der Leiblichkeit als Grundlage des Seelisch-Geistigen weist eine große Ähnlichkeit mit dem kontextualistische Entwicklungsmodell von Wygotsky auf. Das Seelisch-Geistige dagegen wird nicht als Produkt der Leiblichkeit gesehen, sondern als ein Element, das sich mit dem Leiblichen verbindet und deshalb das Leibliche ebenfalls strukturiert. Ähnliche Thesen findet man im „Embodiment“ (vgl. Leuzinger-Bohleber & Emde, & Pfeifer, Hrsg., 2013), also in der These, dass Bewusstsein einen Körper benötigt.

 

Dies bedeutet aber auch, dass das kleine Kind und der Jugendliche neben der Schulung der kognitiven Fähigkeiten auch seinen eigenen Willen betätigen und ausbilden muss. Die Kognition bildet sich über erlebte sinnvolle Handlungszusammenhänge, über das Erlebnis der bildhaften Anschauung bis zum Verstehen der logisch abstrakten Zusammenhänge und darüber hinaus auch zur eigenen Entscheidungskraft aus, indem die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln heraus verstanden werden kann. Der eigene Wille entfaltet sich über das Spiel, in der sich die kindliche Phantasie auslebt, bis hin zur Übernahme von Verantwortung.

 

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