Leben mit oder ohne Organisationen?

Forschungsergebnisse zur organisierten Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf.

 

Im Juli 2015 habe ich meine Promotion mit dem Titel: „Leben mit oder ohne Organisationen?

Forschungsergebnisse zur organisierten Betreuung von Menschen mit Unterstützungsbedarf“, abgeschlossen. Das Thema habe ich gewählt, weil ich 15 Jahre in einem Heim für Menschen mit einer geistigen Behinderung tätig war und dort – zusammen mit anderen Mitarbeitern – versucht habe, das Heim so umzugestalten, dass den Bewohnern/innen Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht wurde. 

 

1.   Leben mit oder ohne Organisationen?

Der Umgang mit Menschen mit Unterstützungsbedarf hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. Bilder von Behinderung, bzw. von Menschen mit Unterstützungsbedarf, wurden konstruiert und erhielten zwischen den leistungsstarken bzw. machtvollen und den ohnmächtigen Menschen in der unmittelbaren Begegnung handlungsanleitenden Charakter, d.h. sie kreierten theoretisch fundierte Handlungskonzepte für die Begleitung, Erziehung oder Förderung der Menschen mit einer Behinderung. In den letzten 40 Jahren steht dabei immer wieder die Organisationsform der Sozialarbeit bzw. der Heilpädagogik im Brennpunkt der Kritik. Konzepte der „Enthospitalisierung“ und „Deinstitutionalisierung“ und  des „Empowerment“  beschäftigten sich entweder mit dem Umbau der Einrichtungen auf der strukturellen, d.h. organisatorischen Ebene (vgl. Erdin 2006) oder es wurden ganz neue Formen, wie das Assistenzmodell kreiert (vgl. Simone Leuenberger, http://www.bzbasel.ch/schweiz/ich-brauche-die-assistenz-um-zu-funktionieren-122047054, gelesen am 10.10.2013). 

 

2.   Behinderung ist ein Konstrukt, welches fast immer eine dichotome Sichtweise widerspiegelt.

Ausgehend von den Bildern/Vorstellungen über Behinderung werden in der Dissertation in einem historischen Überblick die Problemstrukturen exemplarisch sichtbar gemacht, die bis in die Gegenwart wesentliche Elemente jeder Fachdiskussion bilden, wenn auch mit wechselnder Begrifflichkeit. Historische Beispiele zeigen sowohl Abwertung von Menschen mit einer Besonderheit/Behinderung, mit der Aufforderung sie zu töten, als auch Achtung, Pflege und hingebungsvolle Fürsorge. Dabei ist Behinderung ein Konstrukt, welches fast immer eine dichotome Sichtweise widerspiegelt. Erst unter der Prämisse der Inklusion und der uneingeschränkten Teilhabe wird diese absolute Grenze zwischen Behinderten und Nichtbehinderten aufgehoben.

 

3.   Inklusion in eine funktional differenzierte Gesellschaft.

Zwischen den auf der gesellschaftlichen Ebene wirksamen Vorstellungen und der Interaktion der hilfebedürftigen und Hilfe gebenden Menschen schiebt sich in der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft eine dritte Ebene: die formale Organisation (vgl. Luhmann, 1975a, 9ff.). Auch die Bilder/Vorstellungen, die sich betreffend Organisationen herausgebildet haben und die ebenfalls handlungsanleitenden Charakter haben, unterliegen historischen Veränderungsprozessen. Nach Bernfeld (1974) kann man in der außerfamiliären Erziehung, also im Heimwesen, aus pädagogischer Sicht grob drei verschiedene handlungsanleitende Vorstellungen unterscheiden: die Kaserne (die über Disziplinierung Ordnung herstellt), die Familie (die Autoritätsansprüche mit Liebesansprüche verbindet, vgl. Kamp, 2006, 52) und die Republik (welche rechtliche Elemente und Mitbestimmung einführt).

 

4.   Organisationen und Machtverhältnisse

Governance ist ein Paradigma, welches erlaubt Prozesse und Strukturen mit einem relationalen Begriff der Macht (vgl. Foucault) zu analysieren. Auf allen drei Ebenen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft sind verschiedene Menschengruppen aktiv. Im Zusammenspiel dieser Akteure entsteht das Hilfesystem in seiner spezifischen Ausgestaltung. Die Dissertation zeigt den Prozess zwischen den Leistungsempfängern (Menschen mit Unterstützungsbedarf), den Leistungsbestellern und Finanzieren (Regierung und Behörde) und den Leistungserbringern (Mitarbeitende, Sozialpädagogen, Betreuer/innen und dessen Management) auf. Betreuungsqualität entsteht durch das Zusammenwirken der Akteure. Während die Leistungsempfänger auf Individualisierung der Leistungen drängen und ihr Mitbestimmungsrecht einfordern, versucht der Staat Leistungen zu standardisieren und zu objektivieren, damit sie steuerbar und legitimierbar werden. In diesem Prozess hat die Organisationgestaltung und damit das Management, zusammen mit der Profession (Sozialpädagogen, Psychiatern und Therapeuten) eine wichtige Aufgabe, da sie zwischen den Extremen Individualisierung und Standardisierung vermitteln und Verantwortung für die professionelle Gestaltung der Dienstleitungen übernehmen müssen. Die Organisationsebene erhält somit eine große Bedeutung, die oft übersehen wurde und wird. Entweder wird gefordert, die Organisation ganz aufzulösen, oder sie wird nicht reflektiert und im Verhältnis zur Betreuungsarbeit bzw. zur Alltagsbegleitung als etwas Äußerliches ignoriert. Damit entschwinden die Gestaltungmöglichkeiten und -notwendigkeiten der Organisation aus dem Bewusstsein der Profession und der Betroffenen. Die Folge davon ist eine Machtverschiebung zugunsten der staatlichen Instanzen, die bis in die Gestaltung der Organisationen eingreifen.

Hier wird eine andere Lösung vorgeschlagen: den Menschen mit Unterstützungsbedarf an der Organisation zu beteiligen, d.h. ihm eine Stimme zu geben. Nicht nur in der unmittelbaren Begegnung zwischen den Menschen, sondern auch auf der Organisationsebene, muss die Gestaltungsmacht geteilt werden.

 

5.   Verschiedene Organisationsformen

Die verschiedenen Organisationsformen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben – Verwahrorganisation, paternalistische Organisation und außengesteuerte Qualitätsbürokratien –, spiegeln in der Organisationstruktur das dichotome Konstrukt der Behinderung wider. Sie entziehen allesamt den Menschen mit Unterstützungsbedarf die Entscheidungsgewalt über das eigene Leben.

Eine Organisationsform zu finden, welche das Zusammenwirken der verschiedenen Akteure ermöglicht und den Menschen mit Unterstützungsbedarf die Entscheidung über ihr eigenes Leben zurückgibt, war das Ziel des Organisationsentwicklungsprozess, welcher im vorliegenden Buch beschrieben wird. 

 

6.   Literatur

Bernfeld, Siegfried (1974): Die Formen der Disziplin in Erziehungsanstalten. In: Bernfeld: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse. Ausgewählte Schriften. Frankfurt/M - Berlin - Wien: Ullstein.

 

Erdin, Gisela (2006): Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe. Münster: Monsenstein und Vannerdat.

 

Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

 

Kamp, Johannes-Martin (2006): Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. 2. Auflage 2006  als PDF Datei: http://paed.com (aufgerufen am 23.7.2015).

 

Luhmann, Niklas (1975): Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie. In: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag.

 

Gisela Erdin, 21.10.2015

 

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