Der Aufbau der Kommunikation bei nichtsprechenden Menschen
Empirische Untersuchung zur Anwendung von Facilitated Communication (FC), Forschungsprojekt von Dr. Gisela Erdin, Dauer von 2013 bis 2017.
1. Vorbemerkung
Heilpädagogik/Sozialpädagogik ist ein besonders komplexes Fachgebiet, das Wissen und Grundsatzbetrachtungen aus verschiedenen Fachgebieten, wie Medizin, Neurobiologie, Pädagogik, Psychologie, Psychopathologie, Soziologie, Rechtswissenschaft, und Politologie integriert. Inhaltlich wird in diesem Studiengang erstens das Wissen vom Menschen und von seiner Vergemeinschaftung, d.h. die Integration oder Inklusion in die Gesellschaft sowie in kleine oder größere Gruppen von Menschen, zweitens die Anwendung dieses Wissens auf konkrete Situationen (Diagnostik oder Fallanalyse) und drittens die verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten (Methoden oder Interventionen) des Menschen in seiner jeweiligen Situation gelehrt. Unterstützungsbedarf entsteht immer dann, wenn ein Mensch den Alltag nicht ohne Hilfe bewältigen kann. Das kann die vielfältigsten Gründe haben, welche mehr im Physischen oder im Psychischen des jeweiligen Menschen liegen können oder in der Schwierigkeit der Umstände, der Umgebung und der Mitmenschen. Man kann deshalb sagen, der Inhalt von Sozialer Arbeit ist der intersubjektive Raum: das was zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und den Dingen passiert. Soziale Arbeit oder Heilpädagogik dient somit der Verhinderung von Beziehungsabbruch, Isolation und dem Aufbau von Kommunikation, Sprache im weitesten Sinne. In diesem intersubjektiven Raum muss einseitige Machtausübung verhindert werden bzw. sozialarbeiterische oder heilpädagogische Hilfe soll Menschen unterstützen, damit sie sich aus einer ohnmächtigen Position heraus begeben können. Sie besteht im Kern also im Teilen der Macht und deshalb auch im Teilen der Ohnmacht. Dies bedeutet der Wunsch, soziale Wirklichkeit einseitig kontrollieren zu wollen, stellt bereits ein Machtmissbrauch dar. Dieser Machtmissbrauch kann nur durch das Gespräch und der Bereitschaft den Menschen, den man unterstützen möchte, zuzuhören, aufgehoben werden. Soziale Arbeit hat deshalb immer eine ganz persönliche und eine politische Dimension. Behinderung, psychische Erkrankung oder Dissozialität sind – aus diesem Blickwinkel – letztlich Kommunikationsabbruch. Heilung ist die Aufnahme des Gesprächs zwischen Menschen, die sich gegenseitig unverständlich geworden sind, mit dem Ziel sich gegenseitig wieder zu verstehen.
2. Sprache und Kommunikation
In dem von mir durchgeführten Forschungsprojekt stehen Sprache und Kommunikation als zentrales Thema der Heilpädagogik/Sozialpädagogik im Mittelpunkt. Beziehungsabbruch und die Unmöglichkeit des gegenseitigen Verstehens sind in der Sozialen Arbeit keine kurzzeitigen, situationsabhängigen Momente, sondern sie sind entstanden aus komplexen biographischen Aufschichtungen und üben durch das Andauern einen Leidensdruck auf die betroffenen Menschen und auf die Menschen, mit denen sie in einem Beziehungsgeflecht stehen, aus. Durch diesen Leidensdruck bleiben häufig nur noch extremer Rückzug oder Aggression als Handlungsoptionen übrig und zwar für alle Menschen, die in diesem Beziehungsgeflecht stehen. Die Ausdrucksformen und Reaktionen auf diese extrem belastende Situation sind allerdings unterschiedlich und können auch verschieden überzeugend rationalisiert werden. Während der fachlichen Seite Zwangsmassnahmen zur Verfügung stehen, die Isolation oder das zwangsweise Ruhigstellen als 'Schutzmassnahmen', legitimieren, bleiben dem Menschen mit Unterstützungsbedarf im Extremfall nur die Fremdoder Selbstverletzung oder der Rückzug als Mitteilung übrig.
In diesem Sinne wird in der Studie, neben der genauen Beschreibung der untersuchten Probanden, die komplexe biographische Aufschichtung der Fallgeschichten beschrieben. Ziel ist aus dieser theoretischen Sicht nicht die Verhaltensformung. Schwieriges Verhalten wird als sinnvolle Antwort auf schwierige Umstände, die mehr im Menschen selbst oder in seiner Umgebung liegen können, verstanden. Ganz allgemein werden Betreuung, Assistenz oder Sozialpädagogik deshalb ganz wörtlich als Unterstützung verstanden. Sozialpädagogen stützen Menschen, damit diese selbst neue Antworten auf die vorhandenen Umstände geben können, die für sie und ihre Mitmenschen weniger leidvoll sind.
3. Studie zu alternativen Kommunikationsmethoden
In dieser Studie werden die Auswirkungen von Gestützter Kommunikation, Facilitated Communication (FC) wissenschaftlich untersucht. Im Zentrum der Beobachtung steht der Einfluss der Gestützte Kommunikation auf den Spracherwerb, auf die Begriffsbildung und auf das gesamte Verhalten der Anwender, also der Personen, die sich gestützt schriftlich mitteilen. Mituntersucht wird das Verhalten bzw. die Veränderung der Haltung der Bezugspersonen, die im engen Kontakt mit der gestützt schreibenden Person stehen, ganz in dem Sinne, dass Kommunikation immer eine intersubjektive Angelegenheit ist, d.h. zwischen Menschen stattfindet.
Ziel dieser Untersuchung ist es:
4. Vorgehen
In der Studie wird das Verhalten von verschiedenen Menschen, die FC zur Verständigung nutzen, beobachtet, beschrieben und analysiert. Es handelt sich um eine Verlaufsstudie, in der das Verhalten der Menschen vor und nach der Möglichkeit sich mit FC zu verständigen analysiert wird. Neben dem Gestützt-Schreibenden, der Hauptperson der Forschung, wird die Umgebung in die Untersuchung miteinbezogen: Die Gestützt-Schreibenden, dessen Eltern und andere wichtige Bezugspersonen werden einzeln dazu befragt.
Im Gesamten weicht das Vorgehen in dieser Studie wesentlich von anderen früheren Studien ab, die FC untersucht und ihr Augenmerk vor allem auf die Validität der Aussagen gerichtet haben. Dabei wurden wesentliche Implikationen von Sprache insgesamt und Sprachentwicklung vernachlässigt. In dieser Studie werden das Verhalten und die Auswirkungen auf den FC-Nutzer und deren Bezugspersonen miteinbezogen. Die beforschten Menschen werden weitgehend in ihrer Lebenswelt untersucht. Außerdem werden wichtige Forschungsergebnisse zur Sprache allgemein und zur Sprachentwicklung insbesondere berücksichtigt.
5. Die wissenschaftlichen Forschungsmethoden
Es handelt sich um eine empirische Forschung, die qualitative Methoden verwendet. Die Daten werden mit dem narrativen Interview erhoben. Im Sinne der Grounded Theory wird die vorhandene Literatur zum FC und zur Sprache als sensibilisierende Konzepte verwendet und es wird mit Fallvergleichen (theoretisches Sampling) gearbeitet. Die sensibilisierenden Konzepte aus der theoretischen Forschung werden nicht als Klassifikationsinstrumente verwendet. Dies gilt insbesondere für die Entwicklungstheorie. Es wäre naiv Störungen der Sprachentwicklung verstehen zu wollen ohne das vielfältige Wissen über Sprachentwicklung zur Kenntnis zu nehmen, das bedeutet aber nicht, dass Abweichungen per se als Störungen angesehen werden, die eine Weiterentwicklung verunmöglichen. Entwicklungstheorien werden also herangezogen, um das komplexe Entwicklungsgeschehen eines Menschen in seiner spezifischen Umwelt besser verstehen zu können, ohne einen determinierten Entwicklungsweg für die Einzelperson anzunehmen (wie dies Nußbeck1 tut, und die darauf ihre Kritik am FC begründet und die aus diesem Grunde hier zurückgewiesen wird).
Gisela Erdin, 12.10.2016