3. Entwicklung nach Lew Semjonowitsch Wygotsky

Nach Wygotsky ist der Säugling kein asoziales Wesen, wie oftmals in der psychoanalytischen Literatur behauptet wird (vgl. z.B. Margret Mahler in Senckel, 2010).

 

Er hat eine spezifische Sozialität. Die Bewusstseinszustände trennen sich noch nicht von der Wahrnehmung der objektiven Dinge bzw. der sozial vermittelten Welt. In seinem dumpfen unklaren Bewusstseinszustand ist Soziales und Sinnliches miteinander verschmolzen. Auf welche Art auch immer das Kind tätig sein mag, der Hauptweg „[führt] in diesem Alter über andere, führt über den Erwachsenen. Absolut alles im Verhalten des Säuglings ist eingesponnen und eingewoben in Soziales.“ (Wygotsky, 1987, 108). Das erste, was ein Säugling erlebt, ist das: „Ur-Wir“ (Wygotski, 1987, 143). Dabei darf man dieses Ur-Wir nicht verwechseln mit dem ‘Wir’ in einem späteren Alter, was etwas völlig anderes – nämlich die Verbindung von zwei autonomen Wesen – ist. Der Säugling und das Kind lernen, weil sie aktiv mit der Umgebung interagieren und weil die Menschen aus der Umgebung aktiv mit ihm interagieren. Dabei verläuft der Weg vom Objekt zum Kind und vom Kind zum Objekt über eine andere Person. (vgl. Wygotski, 1978, 30, in der Widergabe von Miller, 1993, 344). „Lernen ist das natürliche Nebenprodukt der Beschäftigung mit Aufgaben, an denen auch Erwachsene oder kompetentere Kameraden beteiligt sind.“ (Miller, 1993, 350). Denn „Das Denken des Kindes erstreckt sich über seine Person hinaus.“ (Miller, 1993, 345). Lernen ist Denken und Fühlen als gemeinsamer Prozess mit einer kompetenten Bezugsperson in der Zone der nächst höheren Entwicklungszone. „Die Zone der proximalen Entwicklung definiert jene Funktionen, die zwar noch nicht herangereift sind, sich aber im Prozess der Reifung befinden, Funktionen, die morgen heranreifen werden, sich gegenwärtig aber noch in einem embryonalen Stadium befinden. Man könnte diese Funktionen eher als ‘Knospen’ oder ‘Blüten’ der Entwicklung bezeichnen – im Gegensatz zu ihren ‘Früchten’. Das aktuelle Entwicklungsniveau charakterisiert die geistige Entwicklung retrospektiv, während die Zone der proximalen Entwicklung sie prospektiv bestimmt.“ (Wygotsky, 1978,86 zitiert nach Miller, 1993, 349).

 

In der Entwicklungstheorie von Wygotsky wird das Kind, wie bei Piaget, als aktives Wesen vorgestellt. Während aber nach Piaget die Denkfähigkeit sich nach genetisch vorbestimmten Phasen entwickelt, entsteht das Bewusstsein des Kindes, nach Wygotsky, aus einem gemeinsamen Bewusstsein und zwar das fühlende wie auch das denkende Vermögen des Kindes. Das Kind ist also kein abgeschlossenes Wesen, das mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen interagiert, sondern es ist Teil der Bezugspersonen und nur dadurch, dass diese ihm die Welt zeigen und verständlich machen kann es lernen. Es verinnerlicht nicht das, was der Lehrer oder andere Bezugspersonen ihm sagen, sondern es denkt gemeinsam mit dem Lehrer. Das unterscheidet ihn von dem Erwachsenen, der die entsprechenden Denkstrukturen schon erworben hat. Dieser kann auch unabhängig von anderen Menschen denken.

 

Escher und Messner (2009, 131) stellen in einer Tabelle die Unterschiede der Entwicklungstheorie von Wygotsky und Piaget prägnant dar:

„Gegenüberstellung von wichtigen Unterschieden in den Erklärungsansätzen von Piaget und Vygotskij 

Piaget: Individueller Konstruktivismus  Vygotskij: Sozialer Konstruktivismus
 Das lernende Kind steht als Individuum im Mittelpunkt der Betrachtung.  Der soziale und kulturelle Kontext ist mitberücksichtigt (soziokulturelle Theorie).
Die kognitive Entwicklung verläuft im Sinne einer Selbstentfaltung. Sie wird eigenständig vom Kind her bestimmt. Die kognitive Entwicklung ist das gemeinsame Werk von Kind und Erwachsenen.
Die kognitiven Strukturen werden durch Reifung und Lernen vom Kind eigenständig erworben bzw. selbst konstruiert. Die kognitiven Strukturen sind KoKonstruktionen. Sie gehen auf die Interaktion mit kompetenten Personen zurück und werden vom Kind anschließend internalisiert. 
Die Entwicklung des Kindes verläuft vom Individuellen zum Sozialen. Die Entwicklung des Kindes verläuft vom Sozialen zum Individuellen.
Erziehende sollen die Selbstentfaltung der Kinder begleiten und unterstützen. Erziehenden kommt eine aktiv führende Rolle zu. Die Anleitung geht der Entwicklung voraus.“

Von der Neurobiologie wird Wygotskys Ansicht unterstützt, insofern er eine Erklärung liefert wie neuronalen Strukturen geformt werden. Durch Erklärungen der Erziehungsperson ist dies nicht möglich, denn das würde ja voraussetzten, dass das Kind schon denken kann: „Das Gehirn als ‚Beziehungsorgan‘ wird, (…), von seinen Prozessen ebenso geformt wie es sie ermöglicht. Die Struktur der Individualität als ein ‚Durch-Andere-zu-sich-selbst-Kommen‘ schlägt sich in den neuronalen Strukturen nieder. Damit wird das Gehirn zum Organ der menschlichen Person.“ (Fuchs, 2010, 186).

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